Ein Papier, an dem man nicht vorbei kommt:

FAIRSTAGE präsentiert Maßnahmenkatalog

Published on 15. Sep 2021

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Ein Papier, an dem man nicht vorbei kommt:

FAIRSTAGE präsentiert Maßnahmenkatalog

Published on 15. Sep 2021

Strukturelle Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Abbau von Diskriminierungen an Berliner Theatern - das hat sich die Initiative FAIRSTAGE zum Ziel gesetzt. Am Freitag präsentierten die Akteur*innen nun das Modellprojekt und einen ersten Maßnahmenkatalog auf Zoom. Wir waren dabei und haben zugehört.

(c)FAIRSTAGE auf Zoom

"Ein schönes Zeichen"

Johannes Lange, Schauspieler und Mitglied im Redaktionsteam von FAIRSTAGE, begrüßte immerhin über achtzig Teilnehmer*innen der Zoom-Konferenz und freute sich über das Interesse zur Mittagszeit. Das sei "ein schönes Zeichen" an diesem besonderen Tag, an dem man nun einen Maßnahmenkatalog vorstelle. Damit sei das Projekt nicht beendet - aber eine erste Projektphase finde symbolisch ihr Ende.

Und diese erste Projektphase kann sich sehen lassen: Wann kommt es schon sonst zu einem Austausch, bei dem sich Vertreter*innen institutionell geförderter Sprechtheater sowie Verbände und Initiativen an einen Tisch setzen? Die Freie Szene war in diesem Zusammenhang ebenso vertreten wie die Stadt- und Staatstheater der Stadt Berlin. 

Das Vorhaben

Wie war es dazu gekommen? Im Mai hatte die Senatsverwaltung für Kultur und Berlin auf ihrer Seite verkündet: 

Das Modellprojekt FAIRSTAGE zur strukturellen Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Abbau von Diskriminierungen an Berliner Sprechtheater-Bühnen ist eine gemeinsame Initiative von Diversity Arts Culture (DAC), ensemble-netzwerk und LAFT Berlin, initiiert und gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa.

Das Projekt versteht sich unter anderem als Antwort des Senats auf die "Misstände an Kultureinrichtungen", über die auch Theapolis immer wieder berichtet hat. 

Ein Papier, an dem man nicht vorbei kommt

Dr. Torsten Wöhlert, Staatssekretär für Kultur der Senatsverwaltung für Kultur und Berlin, war denn auch zur Zoom-Präsentation geladen und bedankte sich nach den begrüßenden Worten Langes bei allen Beteiligten für das Projekt. Es sei in der ersten Phase genau das erreicht worden, was man im Kopf gehabt habe. Auch, wenn noch nicht alles stringent sei, bleibe "ein dankbares Fragezeichen". Die Fragen "was kommt auf das Parlament zu, was auf die Verwaltung, was auf die Tarifpartner, was auf die Verbände etc.", die könne man anhand des Papiers gut bearbeiten. Es sei ein Papier entwickelt worden, an dem wer auch immer in Berlin ab 26. September regiere, nicht vorbei kommen könne. 

Die Adressat*innen

Zwischen Mai und August 2021 wurde nun also ein "Maßnahmenkatalog" entwickelt, der sich an fünf Adressat*innen wendet - zum einen an die Politik, konkret: das Abgeordnetenhaus zu Berlin sowie den Initiator und Förderer des Projekts, die Senatsverwaltung für Kultur und Euro, zum anderen an Teile der Branche selbst: Die institutionell geförderten Sprechtheater, die konzeptgeförderten Theater sowie Verbände, Interessenvertretungen sowie Initiativen und Sozialpartner.

(c)FAIRSTAGE auf Zoom

"Und da rede ich auch über Geld"

Daniel Schrader als Vertreter des LAFT Berlin sprach als erster auf der virtuellen Bühne - in seiner Doppelfunktion als Vorstand des LAFT Berlin und als Leitungsmitglied einer institutionell geförderten Institution, des Ballhaus Ost. Im Namen des LAFT war er Mitglied der Steuerungsgruppe. Schrader lobte vor allem "die Atmosphäre des Austauschs", der "sehr freundlich, sehr interessiert" gewesen sei trotz der "schmerzhaften Thematik". Es gäbe viel voneinander und übereinander zu lernen. Ungefähr die Hälfte der institutionell geförderten freien Einrichtungen des Landes Berlin sei im LAFT Mitglied.

Als Frage habe sich die Vergleichbarkeit zwischen den Strukturen gestellt, im LAFT seien teilweise eher kleine Strukturen, die mehr dem "prekären Spektrum" zuzuordnen seien. Der LAFT bitte daher darum, bei der Umsetzung des Maßnahmenkatalogs die strukturstärkenden Maßnahmen, "und da rede ich auch über Geld", nicht "außer Acht" zu lassen. Gerade kleine Einrichtungen seien jetzt schon überfordert, weitere, zusätzliche Aufgaben benötigten "strukturelle Stärkung": "Überforderung und die Verbesserung von Arbeitsverhältnissen, das geht nicht so richtig zusammen."

Was die Gruppe der Künstler*innen angehe, so sei wünschenswert, sie zukünftig als Betroffene auch in so einem Papier zu repräsentieren und ihr Erfahrungswissen einfließen zu lassen - hier seien oftmals schon faire Bezahlmodelle entwickelt worden.

Geld, Zeit, Teilhabe und Respekt

Cordula Kehr stellte im Anschluss Diversity Arts Culture kurz vor und betonte, dass viele marginalisierte Perspektiven noch fehlten, vermeldete als Erfolg allerdings auch den Aufbau einer neuen Stelle: Eine intersektional ausgerichtete Stelle für Antidiskriminierungsberatung im Kulturbetrieb, die im letzten Quartal ihre Arbeit aufnehme.

Anica Happich blickte als Vertreterin des ensemble-netzwerks, das seit 2016 als eingetragener gemeinnütziger Verein operiert, kurz auf die Gründung 2015 - man habe sich ja wegen der unzureichenden Arbeitsverhältnisse an den öffentlich geförderten Theatern zusammen geschlossen - um dann auf die Rolle des Netzwerks bei FAIRSTAGE zu sprechen zu kommen. Die gemeinsame Arbeit mit den Akteur*innen in den letzten drei Monaten sei sehr konstruktiv gewesen, vor allem durch das Beteiligungsforum.

Die Perspektive der Freischaffenden sei seit 2018 auch Bestandteil der Vereinsarbeit, die Notlage der Selbstständigen vor allem seit der Pandemie Thema, das aber auch an anderer Stelle untersucht werden müsse. Ein bereits bestehendes Papier mit Empfehlungen - "Ziele 3000" - liege bereits vor und sei auch in die Mitarbeit an FAIRSTAGE eingeflossen. Auch eine "Fairness-Card" gebe es bereits. Man wünsche sich Verbesserungen in vier Bereichen - Geld, Zeit, Teilhabe und Respekt. 

Kriterien und Methode

Das Entwickeln und Vorgehen beim Erstellen des Maßnahmen-Katalogs stellten Tran Thu Trang und Fatima Çalışkan vom Redaktionsteam vor. Kern des Papiers sei "die Sammlung und Sichtung bestehender Expertisen zu den Themen Diskriminierung, Arbeitsbedingungen und Machtmissbrauch, spezifisch an Berliner Sprechtheatern" und die sich daraus ergebenden Handlungsempfehlungen. Ein Blick auf das Quellenverzeichnis, das am Ende der Konferenz zugänglich gemacht wird, ist in diesem Zusammenhang recht beeindruckend. 

Als zweites wurden in Ergänzung Gespräche mit Expert*innen durchgeführt - aus den Häusern, der Politik, Verwaltung, Arbeitgeber*innenvertretungen. Als drittes gab es Beteiligungsforen.

Marginalisierten Gruppen fehlen oft die Ressourcen

Viele Analysen seien sehr problemorientiert, das Generieren von Handlungsfeldern eine Herausforderung gewesen. "Konkretere Fokusgruppen" einzuladen, um noch mehr Daten erheben zu können, dafür benötige man eine längere Projektlaufzeit, um "dies auch sauber und repräsentativ durchführen zu können." Manchen marginalisierten Gruppen fehlten zudem die Ressourcen, um Lobbyarbeit zu betreiben bzw. "sich in Interessenverbänden vertreten zu können".

Der durch all diese Faktoren entstehenden Leerstellen sei man sich sehr bewusst gewesen. Auch deswegen habe man als drittes in einem öffentlichen Fachgespräch Expert*innen zu den Themen Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Fluchterfahrung, ohne deutsche / ohne EU-Staatsbürgerschaft, sowie Sexismus mit den Schnittstellen zu Heteronormativität, Cissexismus, queere Perspektiven und Perspektiven von LGBTQ+ eingeladen.

Keine "radikalen" Positionen

Der Bereich der Ausbildung, die künstlerischen Hochschulen, sei noch außen vor geblieben. Auch laufe der Anspruch, divers einzuladen, ins Leere, wenn Leitungsteams nach wie vor noch wenig divers aufgestellt sind. Menschen aus marginalisierten Gruppen habe man ebenfalls noch nicht ausreichend erreicht, dafür aber Expert*innenrunden veranstaltet. Die Ergebnisse des Austauschs gründeten auf Konsens, es fänden sich hier keine "radikalen" Positionen.

(c)FAIRSTAGE auf Zoom

Und so werden sechs übergeordnete Punkte benannt, nach denen die Maßnahmen ausgerichtet werden sollen:

  • Eine diskriminierungskritische Organisationsentwicklung
  • Monitoring und Evaluation von Theatern
  • Die Stärkung marginalisierter Akteur*innen
  • Beschwerde- und Unterstützungsstrukturen für Betroffene von Diskriminierung und Machtmissbrauch
  • Leitungsstrukturen als vielfältig zu denken
  • Wissenstransfer und Vernetzung anzustreben

Tran betonte, es sei wichtig gewesen, Zuständigkeiten auszumachen und die entsprechenden Handlungsfelder den richtigen Adressat*innen zuzuordnen. Die Idee dahinter sei gewesen, die Lösungen jeweils in den eigenen Strukturen zu finden, zumal die Adressat*innen unterschiedliche Kompetenzen hätten und an entsprechenden Positionen säßen.

Strukturförderungsbedarf für marginalisierte Gruppen besonders hoch

So könne das Abgeordnetenhaus beispielsweise überprüfen, ob es neue Gesetze brauche, die Senatsverwaltung ihre Förderrichtlinien überdenken etc. pp. Wichtig sei dabei eine Art "crosschecking" - die Akteur*innen aus den Beteiligungsforen sollten sehen, was andere Akteur*innen vorgeschlagen haben.

Der Bedarf, strukturfördernd für marginalisierte Gruppen zu arbeiten, sei besonders hoch, Beschwerde- und Vertrauensstellen "sehr stark gefragt" gewesen. Wechselwirkungen würden wichtig - so könne es beispielsweise nicht funktionieren, wenn ein Theater sich dazu bereit erkläre, alle Maßnahmen umzusetzen, aber gar nicht über die Ressourcen verfüge.

Baldige Umsetzung des Katalogs ist jetzt gefragt

Janina Benduski vom LAFT Berlin skizzierte, was nun konkret anstünde - nämlich die baldige Umsetzung des Katalogs. FAIRSTAGE komme dabei die Aufgabe zu, Zwischenstände abzufragen. Man verstehe sich in diesem Zusammenhang vor allem als "die handlungsauslösende Struktur".

Zur Anwendbarkeit des Maßnahmenkatalogs gäbe es an manchen Stellen offene Fragen: Wann sollten Maßnahmen greifen - präventiv oder erst im Konfliktfall? Kontroverse Themen darüber hinaus seien Leitungsstrukturen gewesen - wie könne Leitung neu gedacht, wie könnten Ernennungsverfahren transparenter werden? 

Gespräche mit der Akademie der Künste und mit dem Deutschen Bühnenverein zu weiteren Schritten fänden statt. 

Feedback aus den Leitungsebenen - Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme

Zuletzt sprachen Verwaltungsleiter Lars Zühlke vom HAU und Intendantin Christina Schulz vom Theater an der Parkaue als Vertreter*innen der institutionalisierten geförderten Theater.

"Was bleibt, was kommt" sei für Schulz die Überschrift, unter der sie das Vorhaben empfunden habe. Der Startpunkt habe sie erst in eine Orientierungslosigkeit ob der so heterogenen Strukturen und Bedürfnisse gestürzt, was aber auch gezeigt habe, wie komplex das Thema sei. Es sei bei der Erarbeitung des Papiers sehr strukturiert und ergebnisorientiert vorgegangen worden. Der Praxistransfer sei das, was nun anstünde. Die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme auf den Leitungsebenen der Häuser, der Politik und der Verbände sei wichtig bei solch grundlegender Kultur- und Strukturwandel gelingen kann - insofern "gibt’s viel zu tun - mal gucken, was kommt."

(c)FAIRSTAGE auf Zoom

"Wir müssen viel mehr miteinander reden"

Lars Zühlke vom HAU schloss sich voll an und ergänzte um einen Aspekt: Seine Haupterkenntnis sei gewesen, "dass wir viel mehr miteinander reden müssen". Und dass, "wenn man sich dafür die Zeit nimmt", die unterschiedlichen Akteur*innen in ihren Bedürfnissen gar nicht so weit auseinander lägen. 

Judith Hofmann vom Ensemble Bündnis Berlin (EBB) lobte die Vernetzung und appellierte persönlich an die einzelnen Häuser, nun "mutig voranzugehen". Bei manchen Verträgen, die derzeit in Gebrauch seien, sei "der Machtmissbrauch im Prinzip schon verschriftlicht." Man könne auch "Vorreiter*in sein" und müsse nicht auf Verbände und Politik warten, ein Haus könne auch einfach sagen: "Unser Vertrag sieht einfach so aus, dass kein Machtmissbrauch möglich ist."

Vierthaler: "Generalverdacht der Gleichgültigkeit"?

Georg Vierthaler von der Stiftung Oper in Berlin merkte noch an, die Theaterleitungen nähmen die Probleme ernst. Die Mehrheit der Mitgliedsbühnen im Deutschen Bühnenverein hätte einige Aspekte auch schon sehr lange auf der Agenda, eventuell "unter anderen Labels". Er warne davor, Leitungen unter den "Generalverdacht der Gleichgültigkeit" zu stellen, lobte aber zugleich die Möglichkeit, die Bestandsaufnahme auch an die Politik heranzutragen. Der Fachaustausch solle fortgesetzt werden, seitens der Stiftung Oper könne das Ganze in ein Symposium münden oder in regelmäßige Tagungen.

"Koalition der tatsächlich diskriminierungssensibel Handelnden"

Zuletzt kamen zwei Vertreter*innen der konzeptgeförderten Häuser auf die virtuelle Bühne: Franziska Werner von den Sophiensaelen Berlin und Tim Sandweg von der Schaubude Berlin. Von der "Koalition der Willigen" müsse man nun zu einer "Koalition der tatsächlich diskriminierungssensibel Handelnden" kommen, resümierte Franziska Werner.

Appell an die Politik: Kleine Bühnen möglicherweise überfordert

Sandweg erwähnte, es sei bereichernd gewesen, im Austausch mit den anderen zu merken, wie andere vorgingen. Großartig auch, dass es nun einen Maßnahmenkatalog gebe - und damit konkrete Handlungsanweisungen und Ansprechpartner*innen. Und er nahm nochmal Bezug auf die einleitenden Worte Schraders, dass kleine Bühnen möglicherweise überfordert sein könnten; eine indirekte Frage nach der Finanzierbarkeit der Maßnahmen, vielleicht auch ein Appell an die Politik.

Die meldete sich mit Sabine Bangert (Bündnis 90 / Die Grünen) prompt zu Wort: Das Papier werde auf jeden Fall seinen Weg in die Politik finden - egal, wer mit wem in eine Koalition gehe. 

Das ist eine Ansage. Ob sie eingelöst wird? Theapolis wird darüber berichten.

(c)FAIRSTAGE auf Zoom

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