Rauchschwaden ziehen wie ein Bühnennebel durch den vergifteten Volksbühnen-Streit in Berlin. Dieser wird durch ein Räucherstäbchen derzeit noch verschärft. Was liegt hinter dem Nebel?
Sehen wir gerade die Rauchschwaden eines erkaltenden gesellschaftlichen Lagerfeuers, das das Theater (als Kollektivsingular) einmal darstellte?
Tim Renner, Kulturstaatssekretär in Berlin, beruft Chris Dercon, einen Museumsmann, zum Nachfolger von Frank Castorf. Castorf selbst, seit 25 Jahren Intendant der Volksbühne, ist eine lebendige Bühnengottheit und liebt es, fünfstündige Abende zu inszenieren, bei denen immer alle rauchen. Claus Peymann, ebenfalls Gottheit und Intendant des Berliner Ensembles, und Castorf, hassen sich abgöttisch. Beide müssen zum Ende der kommenden Spielzeit abtreten und jüngeren das Feld überlassen. Hier dem Museumsmann Dercon (den alle Welt falsch angelsächsisierend "Dörkn" ausspricht), mit dem sowohl Hoffnungen auf das Potential ästhetischer Neuerungen als auch gleichzeitige Befürchtungen über dasselbe einhergehen, dort dem Intendanten Reese, der schon heute an alter Wirkungsstätte in Frankfurt - die einen sagen „überaus erfolgreiches Programm“, die anderen sagen „bekanntes staatstheatral-arriviertes Programm à la Hamburg, Berlin und München" - bietet.
Nun verbrüdern sich die beiden Alten im Streit gegen den - wiederholt desavouierend der Blödheit bezichtigten - jungen Kulturstaatssekretär Tim Renner ("weisses Hemd", "Zwergenmensch") - den man noch mehr hasst als jeweils sich gegenseitig. Und das Team der Volksbühne - unter Berufung auf aus ihrer Sicht unerfreuliche Gespräche mit Dercon - schreit selbstgewiss-kassandragleich per offenem Brief, Renner möge Dercon nicht das Feld überlassen. Man menetekelt, der genius loci der Volksbühne werde sich sonst - und zwar gleich am gesamten Theaterwesen in Deutschland - böse rächen, indem er auf einer abschüssigen Bahn von Nord nach Süd durch jedes Haus fährt.
Die Exaltiertheit dieser Auseinandersetzung ist für das Kulturpublikum nicht nur die erste Peymann/Castorf-Ko-Regie, sondern eine wirkliche Meisterleistung der theatralen Pose. Da wird jüngst nun auch ein Räucherstäbchen zum Skandal, das Renner durch das BE tragen will (wie eine Monstranz vor sich her?), bevor Castorf dort inszeniert – diese Nachtigall wollen Gutinformierte bereits trapsen gehört haben.
Aber: wen ficht dieser Streit eigentlich an, außer den Beteiligten, den Kulturinsidern und den Echauffierungswilligen in der ganzen Theaterrepublik? Und natürlich jenen, die aus Gründen der Hippness jetzt mitschwätzen, obwohl der letzte Besuch der Volksbühne doch auch schon geraume Zeit zurückliegt? Die 50% Niemals- und 35% So-gut-wie-niemals-Besucher innerhalb der Bevölkerung eher nicht. Werden sie sich künftig angesprochen fühlen, ein Theater zu betreten, wenn sie diesen zum Schicksalsrubikon der Theaternation erhobenen Personalstreit von außen beobachten? Ebenfalls eher nicht.
Die Frage müsste doch also – statt Dercon, Reese, Peymann, Castorf oder gar Lux – lauten: wie -um alles in der Welt-, mit welchen Themen, Stoffen, Inhalten und Ästhetiken erreichen wir unser Publikum, um unserem Job als gesellschaftlicher Streitraum gerecht zu werden? Und spielt es da wirklich die alles überragende Rolle, welcher Krösus dem Haus als Intendant vorsitzt? Oder ist es nicht vielmehr das Ensemble aus Leitung, Mitarbeitern, Programm und Vermittlung, das auf eine gelingende Zukunft des Theaterwesens hoffen lässt? Sprich: wird im Streit um den Kopf der Volksbühne nicht auch überdeutlich, wie sehr in den Köpfen der Theaterwelt der starke Mann (oder - nach wie vor wesentlich seltener - Frau) an der Spitze festsitzt? Und ist nicht gerade diese Hierarchiefixierung gleichzeitig immer wieder Ausgangspunkt für vielgestaltigen Stress in den Häusern? Und damit wiederum Anlass zu Echauffierung, Skandalisierung und Geschrei?
Haben wir es also – kurzum – mit einem perpetuum mobile der Empörung des Theaters über sich selbst zu tun, ein aus sich heraus nie versiegender Quell (der im Übrigen auch durch den NV-Bühne und die eher schläfrige Arbeitnehmerrechtevertretung durch den GDBA überhaupt erst ermöglicht wird)? Weg mit den Nebelkerzen. Der Streit um Dercon ist eine Farce, angezettelt von denjenigen, die ihre eigene Rolle in der Gesellschaft massiv überschätzen. Wir sollten uns hinterfragen. Und unser Leben ändern.
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