Mitglieder-Kommentar

Festrede zum Beginn des zweiten Lockdowns

Veröffentlicht am 2. Nov 2020

Pigor © Pigor © Pigor
Mitglieder-Kommentar

Festrede zum Beginn des zweiten Lockdowns

Veröffentlicht am 2. Nov 2020

Ein Kommentar von Pigor.
In einem anderen Leben bin ich mal Naturwissenschaftler gewesen und seit März bin ich Fan des Drosten-Podcasts, der mir nicht nur einen Hauch von Einblick ins Fach Virologie beschert hat, sondern wieder die Schönheit der wissenschaftlichen Denkweise nahe gebracht hat. Diese unbedingte, schlaue, und ergebnisoffene Suche nach der besten Annäherung an die Wahrheit und, im günstigen Falle wie Drosten uneitel, lauter und dem Hörer zugewandt.

The Hammer and The Dance
war eines der Schlagworte, die ich dort im März zum ersten Mal gehört habe.
The Hammer: Wir machen einen Lockdown, d.h. erstmal alles dicht.
The Dance: Wir lockern die Maßnahmen und differenzieren aus, welche Maßnahmen weiterhin aufrecht erhalten werden müssen und was gelockert werden kann.
Den Hammer haben sie in Deutschland ganz gut hinbekommen. Nicht lange gefackelt und deswegen effektiv. In Italien, Spanien und Frankreich schlug man viel heftiger zu als hierzulande und wie wir heute wissen, zu spät und teilweise ganz schön daneben.

Hätte Hätte Fahrradkette
Nach dem Hammer hätte man zum Tanz übergehen müssen. Der Lockdown wurde gelockert, der Sommer gab genügend Frischluft her für eine Neujustierung der Maßnahmen. Es hätte Spielraum gegeben, ein System zu entwickeln, das Unterschiede benennt, zwischen Orten mit ausgefeilten Hygienekonzepten und potentiellen Virenschleudern. Doch vielerorts setzte sich nicht die Vernunft durch, sondern die Jungs mit den härtesten Ellbogen. Corona zeigte auf, wer die besten Lobbys im Lande hat. Auch die Ministerpräsidenten spielten eine zweifelhafte Rolle, die ihre temporär niedrigen Landesinfektionszahlen als Dauerplädoyer für ein Ende der Maßnahmen anführten. Dazu die Schwadronaden der Wirtschaftswissenschaftler und Juristen in den Talkshows, die ein Ende der Gefahr suggerierten oder den Sinn von Maßnahmen überhaupt in Frage stellten. Die Kultur war, wie Till Brönner in seinem klugen Podcast richtig anmerkte, wieder mal viel zu leise, weil ohne Lobby und - von Barenboim bis zur griechischen Volkstanzgruppe -  so unterschiedlich wie die gesellschaftlichen Milieus in denen sie jeweils wurzelt. Am Ende des Sommers zeichnete sich ab, dass die verschiedenen Covid-Indikatoren wieder exponentiell nach oben zeigten. Mit etwas Mathematik der Oberstufe war vorherzusehen, was früher oder später passieren würde.

Das Sommermärchen
ist leider noch früher zu Ende gegangen als erwartet und jetzt brauchen wir wieder den großen Schmiedehammer, weil man es versäumt hat, nachvollziehbar feststellen zu lassen, wo es taugliche Hygienekonzepte gibt und wo nicht.

Pigor & Eichhorn haben, wie die Mehrzahl der Kollegen auch, sechs Monate lang nicht gespielt, während die Gastro und die Tourismusbranche wenigstens mit angezogener Handbremse arbeiten konnten und die Reiserückkehrer, die Partypeople und die Hochzeiter für den Bodensatz an Infektionszahlen in der Bevölkerung sorgten.

Auf Tour
Wir haben im September wieder angefangen zu touren und in verschiedenen Theatern deren Hygienekonzepte kennengelernt. Die überwiegende Anzahl hat richtig gute. Angepasst an die Räumlichkeiten, einfallsreich, teilweise mit erheblichem finanziellen und organisatorischen Aufwand. Und das Theaterpublikum ist so brav! Widerspruchslos hält man Hygieneregeln ein, setzt Masken auf, dankbar, dass endlich wieder was läuft. Man hält Abstand und sogar die Stimmung ist mit wenigen Zuschauern in Coronazeiten besser als mit wenigen vor Corona.

Der dritte und der vierte Hammer
Ich weiß, die Poltik, die Wissenschaft, alle fahren auf Sicht und wir lernen dauernd dazu. Hoffentlich. Aber wenn jetzt - und das hoffentlich bald - der zweite Hammer vorüber ist und uns das Virus noch länger erhalten bleibt, brauchen wir für die kommende Phase der Lockerungen ebenso wie für den dritten und den vierten Hammer Konzepte für differenziertere Maßnahmen. Wir möchten ja unsere Strukturen so weit wie möglich erhalten. Eine dringliche Aufgabe der Politik sollte es deshalb sein, möglichst bald Kriterien für eine spartenübergreifende Kategorisierung von Orten mit Hygienekonzept und jenen mit erhöhter Ansteckungsgefahr zu entwickeln, damit diejenigen, die ihre Lokalitäten relativ sicher gemacht haben, von den Hammerschlägen verschont bleiben und von den Lockerungen als erste profitieren.

Die Kühlschränke machen es uns vor
Ich habe zugegebenermaßen keine Ahnung davon, wie man sowas umsetzt. Macht man das mit Ausnahmegenehmigungen, oder mit Michelin-Sternchen? Ich könnte mir ein Ampelsystem vorstellen mit A B C D E-Kategorien wie bei den Kühlschränken.
Dann könnte man bei steigenden Infektionszahlen sagen: Kategorie E macht in Bayern dicht. Das heisst, die E-Kellerkneipen bei denen der Wirt sich weigert, die Lüftungsanlage auf Frischluft umzurüsten, müssten schließen und die B-Yogastudios, die B-Theater, die B-Büros und auch die B-Kellerkneipen mit tauglichem Hygienekonzept und Lüftung blieben offen. Und die Kitas setzt man unabhängig davon auf Kategorie A.
Welches Modell auch immer sich die Fachleute ausdenken: Es sollte differenzieren können.

Ich bilde mir nicht ein, dass sowas keinen Ärger geben wird, aber ich kann mir vorstellen, dass ein spartenübergreifender nach Hygienekriterien erstellter Rahmen besser zu vermitteln ist, als die jetzige Situation mit Sonderregelungen für Bundesländer, Ausnahmen für ganze Sparten und der absurden Situation, dass Hotspots wie Kirchen generell offen bleiben, und ein hochgesichertes Theater schließen muss.

Es lebe das Ordungsamt!
Eine hehre Aufgabe für die Ordnungsämter, die, so vermute ich, dafür zuständig wären. Aber wenn ich das richtig sehe, kontrollieren sie doch sowieso die Hygienekonzepte der Betriebe, und wenn man sie anwiese, bei anderen Kontrollfeldern coronabedingt vorübergehend etwas weniger pingelig zu sein, würden viele geplagte Wirte und Theaterbetreiber aufatmen und die Kontrolleure hätten mehr Spielraum für die Kategorisierung. Eine Herkulesarbeit, aber es geht um unser gesundheitliches und wirtschaftliches Überleben!  

Leben mit dem Virus
Wir sollten wegkommen vom Zurückweichen vor Partikularinteressen und den ordnungspolitischen Primärreflexen der Politik. Dass inzwischen sogar konservative Politiker gelernt haben, dass es gar nicht immer so sinnvoll ist, Staatsgrenzen zu schließen, sobald eine Situation brenzlich zu werden droht, ist immerhin ein Fortschritt. Aber anstatt sich dauernd auf die Schulter zu klopfen, wie toll es in Deutschland läuft, sollten wir uns jetzt endlich an die Hausaufgaben machen und Wege finden, den nächsten Hammer smarter zu führen: Die Hygieniker ein Raster entwickeln lassen, mit dem die Ordnungsämter nach aktuellen wissenschaftlichen, nachvollziehbaren und allgemein gültigen Kriterien aussortieren können, was stattfinden darf und was wann wo geschlossen werden muss. Spartenübergreifend.

Dance! Dance! Dance!

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