Kommentar

Willkommen im Tanzparadies Deutschland?

Veröffentlicht am 26. Apr 2024

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Willkommen im Tanzparadies Deutschland?

Veröffentlicht am 26. Apr 2024

In der Sparte Tanz wird an deutschen Theatern rigoros gespart. Und das vor allem zu Lasten der Künstler*innen. Der Tarifvertrag bietet kaum Schutz, die Gagen sind spärlich. Und ausgerechnet die Solist*innen stehen am schlechtesten da. Das ist absurd und muss sich dringend ändern, findet unser Autor.

63 Tanz- und Ballett-Kompanien gibt es in Deutschland. 10 davon bestehen aus mehr als 30 Tänzer*innen und gehören zu den renommiertesten auf der Welt. Diese Kunstgattung hat sich in den letzten 40 Jahren sowohl künstlerisch als auch tanztechnisch enorm entwickelt. Die physische und psychische Beanspruchung ist sehr belastend und sorgt oft für eine sehr kurze Karriere. Daher brauchen gerade Tänzer*innen gute Schutzvorschriften, um sich vor Verletzungen, Unfällen und psychischer Belastung zu schützen. Eine dieser Vorschriften ist der Tarifvertrag NV-Bühne. In diesem Regelwerk gibt es wiederum verschiedene Sonderregelungen (SR): Solche für Solo-Tänzer*innen und solche für Gruppen-Tänzer*innen.

Während in der "SR-Tanz" für Tanzgruppenmitglieder bessere Arbeitszeiten- und Bezahlungsregelungen festgehalten sind, beinhaltet die "SR-Solo" für Solist*innen weitaus schlechtere. So wird etwa für Tanzgruppenmitglieder wöchentlich ein freier Werktag und ein halber freier Tag - der nicht auf einen Vormittag eines Sonntags oder eines Wochenfeiertags fallen darf - gewährt. Die "SR-Tanz" regelt auch Entgeltgruppen, die auf dem gleichen Niveau wie Opernchormitglieder sind und die sich an der Orchester-Bezahlung in den jeweiligen Häusern orientieren. Bei Solist*innen hingegen sind freie Tage und Bezahlung viel schlechter geregelt. Diese Unterschiede stellen einen Widerspruch dar: Gerade die Solist*innen, die mehr Belastung und Verantwortung haben, bekommen die kleinere Gage und haben weniger Regenerationsphasen.

Ausgerechnet die Sparte mit den besten Auslastungszahlen wird im Theater am schlechtesten bezahlt

Vor 1990 bestanden die Kompanien aus ca. 75 % Tanzgruppenmitgliedern und ca. 25 % Tanzsolist*innen. Heute ist es umgekehrt. Es werden überwiegend Solo-Verträge vergeben - mit der Verpflichtung bei Gruppenaufgaben mitzuwirken. Die Argumentation von Seiten der Arbeitgeber*innen: Diese Art von Verträgen sei künstlerisch geboten, da die Art des Choreographierens sich in den letzten Jahren verändert habe und es eine hierarchische Unterscheidung in einer Kompanie nicht mehr gebe. Fakt ist jedoch, dass die seit den 90er Jahren umgesetzten Einsparungen die Sparte Tanz am härtesten getroffen haben. Die Folge: Der*die Arbeitgeber*in zahlt den Solist*innen weniger Gehalt, kann aber gleichzeitig freier über sie verfügen.

Meistens werden die Solotänzer*innen als Gruppentänzer*innen eingesetzt. So können die Häuser auf Kosten der Künstler*innen sparen. Ausgerechnet die Sparte mit den besten Auslastungszahlen und großer Beliebtheit beim Publikum wird im Theater am schlechtesten bezahlt. Schnell entledigt man sich der Tänzer*innen, wenn nach einer Verletzung oder altersbedingt die Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist. Es folgt sehr oft die Berufsaufgabe. Große Bewunderung beim Publikum und schlechte Behandlung von Arbeitgeber*innen liegen nah beieinander. Die schlechten Bedingungen bleiben im Verborgenen, da es sich in diesem Beruf vielfach um unerfahrene junge Menschen handelt, die ihre Rechte nicht kennen und aus Angst, nichtverlängert zu werden, über die Missstände schweigen.

„Man bekommt das, was man verhandelt und nicht das, was man verdient“

Nun werden die Tänzer*innen durch Verbände wie Dancersconnect und die Bühnengewerkschaft (GDBA) über ihre Rechte gut aufgeklärt. Dies führte in den letzten Jahren zu einer erstaunlichen Entwicklung. Während es 2017 noch nur ca. 200 Tänzer*innen bei der GDBA gab, sind es heute mehr als 870. Egal wie viel Bewunderung und Anerkennung die Tänzer*innen erfahren, nur sie selbst können für Verbesserung ihrer Situation sorgen. Nach dem Motto: „Man bekommt das, was man verhandelt und nicht das, was man verdient“. Für eine ethische Behandlung sollen sich die Tänzer*innen Verbündeten anschließen – wie der GDBA, der Ethik-Kommission Tanz oder Dancersconnect. Ziel müsste sein, dass es nur noch eine Sonderregelung Tanz gibt, die Solo- und Gruppentänzer*innen umfasst. Nur so können eine faire Bezahlung und zumutbare Arbeitszeiten erreicht werden. Aus dem künstlerischen Bereich könnten die Orchester als Vorbild dienen: Orchestermusiker*innen sind schon immer in Gewerkschaften organisiert und zählen zu den bestbezahlten am Theater. Mit ihrer Solidarität untereinander haben sie bewiesen, dass Arbeitsbedingungen wesentlich verbessert werden können.

Adil Laraki, Jahrgang 1963, wuchs in Rabat/Marokko auf. Nach erstem Tanzunterricht in Rabat studierte er Bühnentanz in Lausanne und später an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. Engagements am Staatstheater Hannover und am Essener Ballett folgten. Laraki tanzte in Werken u.a. von George Balanchine, Hans van Manen, Frederick Ashton, Glen Tetley, Kurt Jooss, Birgit Cullberg und John Cranko. 1994 verabschiedete er sich von der Bühne und widmet sich seitdem als freigestelltes Mitglied des Betriebsrates und Gewerkschafter leidenschaftlich den Interessen seiner ehemaligen Kolleg*innen. Seit 2002 ist er Betriebsratsvorsitzender der Theater & Philharmonie Essen GmbH, darüber hinaus engagiert er sich in zahlreichen Gremien. Laraki trat schon 1985 als Ensemblevertreter für die Belange des Essener Balletts ein und nahm 1988 mit dem Vorsitz des Lokalverbandes Essen der Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger (GDBA) seine erste gewerkschaftliche Aufgabe an. Im Oktober 2003 wurde der agile Marokkaner zum Vorsitzenden des GDBA-Landesverbandes NRW bestimmt. Und am Bühnenschieds- und Bühnenoberschiedsgericht, einer Art Arbeitsgericht für Bühnenangehörige, wirkt der Funktionär seit 1995 als Beisitzer mit. Seit 2009 ist er Mitglied des WDR-Rundfunkrats und seit 2014 des Aufsichtsrats der Film- und Medienstiftung NRW. Laraki ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.

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