Wochenrückblick #14/22

Gesinnungsprüfungen, Gleichschaltung und die Umkehrung der Tatsachen

Published on 2. Apr 2022

Wochenrückblick #14/22

Gesinnungsprüfungen, Gleichschaltung und die Umkehrung der Tatsachen

Published on 2. Apr 2022

Was ist die Erwartungshaltung an russische Künstler*innen - erleben wir gerade ein allgemeines "Canceln"? Welche Aufgabe kann und muss die Kunst im Krieg übernehmen? Warum wirft Putin mit Nazivergleichen um sich? Und was gibt es eigentlich Neues von der Tarifverhandlungen zum NV Bühne?

Kunst kann keinen Krieg beenden. Das ist eine Erkenntnis, die immer wieder gemacht werden muss und die immer wieder bestritten werden muss. Beides, das Erkennen und das Bestreiten, ist notwendig, wenn die Kunst etwas dazu beitragen will, die Welt besser zu machen. Was die Kunst im Krieg tun kann, ist da sein und da bleiben und dadurch – so abgedroschen die Formulierung ist – Bilder schaffen und Geschichten. Die irgendwohin gehen. Unter die Haut, in die Herzen, in die Köpfe, um die Welt... und dann etwas verändern. Mühsam, im Kleinen, irgendwann, vielleicht, ganz sicher.

Premiere im Bombenhagel und Putins Nazivergleiche

Den Namen Aeham Ahmad kennen vielleicht nicht alle, aber dass es einen syrischen Pianisten gibt, der in den Trümmern spielte, das wissen viele. Das New English Theatre in Kiew kannten bisher wohl die wenigsten hierzulande, aber es spielte am vergangenen Sonntag eine Premiere. "Während der ganzen Vorstellung wurde bombardiert. Was wir taten, fühlte sich falsch und richtig zugleich an", sagt die Regisseurin des Stücks Tanya Shelepko. Das Stück war übrigens der Einakter "The New World Order" von Harold Pinter und war schon lange vor dem Krieg geplant. Kann man bei dem Titel kaum glauben. Die Premiere wurde auf Facebook gestreamt und auch in eine Veranstaltung am DT in Berlin zum Welttheatertag einbezogen, über die die Deutsche Bühne berichtet.

In Russland arbeitet Putin derweil weiter an der Gleichschaltung der Kulturszene. Während Putins enger Freund, der in München entlassene Waleri Gergijew, offenbar tatsächlich neben dem Theater in St. Petersburg auch das weltberühmte Bolschoi-Theater übernehmen soll und damit zum vielleicht mächtigsten Mann in Sachen Kultur in Russland wird, wird eine weitere kritische Stimme zum Verstummen gebracht. Die russische Theaterzeitschrift Teatr, die sich in den Anfangstagen des Krieges durch die Veröffentlichung einer detaillierten Chronik der Ereignisse des Krieges hervorgetan hatte, muss "auf unbestimmte Zeit ihre Aktivitäten einstellen", wie nachtkritik berichtet.

In einer Umkehrung der Tatsachen wirft Putin derweil dem Westen einen "Feldzug gegen die russische Kultur im Stil der Nazis" vor und schwadroniert ob der Besetzungs- und Spielplanentscheidungen unter anderem in Deutschland über Bücherverbrennungen und den Stolz auf die kulturelle Vielfalt in Russland.

Allgemeine "Gesinnungsprüfung" für russische Künstler*innen? Wohl eher nicht.

Ohne Nazivergleiche schwelt auch in Deutschland die Debatte um den Umgang mit russischen Künstler*innen weiter. Seit Wochen häufen sich die Artikel, in denen kritisch über eine Cancel Culture gegenüber russischen Künstler*innen gesprochen wird. Immer wieder - beispielsweise diese Woche in einem Interview im rbb – heißt es, es gebe einen Hang in Deutschland, von allen russischen Künstler*innen das Ablegen einer Art Gesinnungsprüfung zu erwarten.

Ich als Autor dieses Artikels wundere mich über diese Ansicht. Es stimmt, dass Menschen im öffentlichen Leben, die russischer Abstammung sind, in einer entsetzlich schwierigen Situation sind, da sie in der Regel Familie, Freunde oder auch berufliche Beziehungen in Russland haben und im totalitären System Putin eine Distanzierung drastische Konsequenzen hat, vor denen man zu Recht Angst haben kann. Das zu ignorieren wäre anmaßend.

Netrebko distanziert sich schließlich - und erntet die Konsequenzen

Es stimmt auch, dass es mehrere prominente Fälle gibt, in denen von Kulturschaffenden eine solche Distanzierung verlangt wurde und es Konsequenzen hatte, wenn sie nicht erfolgte. Gergijew, Anna Netrebko und der Chef des Bayerischen Staatsballetts Igor Zelensky – das sind die Namen, die diesbezüglich seit Wochen durch die Presse kreisen. Anna Netrebko hat sich vergangene Woche nun doch deutlich von Putin und seinem Angriffskrieg distanziert und ihr Beispiel zeigt exemplarisch die beschriebenen Mechanismen. Während die westlichen Bühnen trotz ihrer Erklärung noch zögern, wurde sie in der russischen Kulturszene prompt zur Persona not grata erklärt.

Der Fall von Zelensky ist seit Wochen der undurchsichtigste der genannten und bleibt es auch weiterhin, wie in der SZ nachzulesen ist. Man könnte also zu dem Schluss kommen, dass eine solche Gesinnungsprüfung stattfindet. ABER: Das sind genau die Fälle von Künstler*innen, die in der Vergangenheit in der Tat eine gewisse Nähe zu Putin gezeigt haben und die in den meisten Artikeln, die eine Cancel Culture beklagen, oft dezidiert nicht gemeint sind.

Eine Forderung sich zu positionieren, zu distanzieren, die sich auf russische Künstler*innen im Allgemeinen erstreckt - unabhängig davon, ob sie in der Vergangenheit als Unterstützer Putins aufgefallen sind - kann ich zumindest in der Öffentlichkeit nicht erkennen. Seit Wochen fallen mir etliche Artikel auf, die diese Forderung beklagen, aber keine, die sie stellen. Es mag natürlich sein, dass es diese Erwartung unterhalb des öffentlichen Radars – an Stadttheatern, Opernhäusern etc. gibt, im professionellen oder semi-privaten Rahmen.

Ist das so? Es würde mich ungemein und ganz ehrlich interessieren. Vielleicht kann ja die Kommentarfunktion unter unseren Wochenrückblicken eine Plattform für einen solchen Austausch bieten.

Neue Onlineplattform - und Freikarten für Geflüchtete

Seit dieser Woche gibt es mit new-start.media ein neues Jobportal, das von Vertretern der Kultur- und Medienwirtschaft gegründet wurde und sich in Ukrainisch, Russisch, Englisch und Deutsch gezielt an geflüchtete Kulturschaffende aus der Ukraine und aus Russland richtet. Neben einem Jobportal beinhaltet die Plattform auch ein soziales Netzwerk und eine Online-Akademie mit Deutschkursen und Bewerbungstraining.

Auch die "passive" kulturelle Teilhabe wird dieser Tage immer stärker zum Thema. Verschiedene Theater deutschlandweit bieten zum Beispiel Freikarten für Geflüchtete aus der Ukraine an und sehen sich dabei zum Teil der Kritik ausgesetzt, was denn mit Geflüchteten aus anderen Ländern sei. Das Theater Krefeld und Mönchengladbach macht es besser und unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Herkunftsländern.

Urteile, Freisprüche, Mahnungen

Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow ist nach der wohl politisch motivierten Verurteilung wegen Veruntreuung von Geldern aus dem Jahr 2020 überraschend von einem Moskauer Gericht freigesprochen worden und besuchte nun eine Vorstellung seiner eigenen Inszenierung des Decamerone in Berlin, wie der Standard berichtet. Schon im Januar durfte er überraschend aus Russland ausreisen um in Hamburg zu inszenieren, musste aber unmittelbar danach nach Russland zurückkehren.

Der ehemalige Stuttgarter Musikdirektor Mikhail Agrest hat seinen Job zumindest offiziell wieder. Das Bühnenschiedsgericht hat nun geurteilt, dass die Kündigung, die nach einem Streit auf einer Probe erfolgt war (wir berichteten) unwirksam ist, da kein triftiger Grund vorgelegen habe. Der Streit dürfte damit aber keineswegs beigelegt sein, sondern in die nächste Runde gehen. Agrest zeigte sich erleichtert über die Entscheidung: "Als Mensch, der viele Jahre in einem autokratischen Land gelebt hat, schätze ich sehr den Wert des unabhängigen Gerichts."

Stuttgart war nicht nur wegen dieses Falls in den letzten Monaten häufig Schauplatz von Wochenrückblick-Episoden, sondern auch wegen eines Unwetters, das Teile des Dachs des Schauspielhauses weggerissen hatte. Das "Kupferknäuel" als welches das Dachstück auf der Erde zu liegen kam, wird nun als "Mahnmal für den fortschreitenden Klimawandel" einen Platz im See vor dem Staatstheater erhalten.

Tarifverhandlungen zum NV Bühne gehen weiter

Die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger hat auf ihrer Homepage einen FAQ eingerichtet, in dem es um die Forderungen geht, mit denen die Gewerkschaft in die laufenden Tarifverhandlungen geht. Unter anderem ist dies eine deutliche Erhöhung der Mindestgage von aktuell 2000€ auf 2750€ bzw. 3100€, je nach Einstufung der Tätigkeiten. Die GDBA hatte eine Veröffentlichung und Diskussion über die eigenen Positionen im Vorfeld der Tarifverhandlungen angekündigt um sichtbarer und durchschlagskräftiger zu werden.

Der Deutsche Bühnenverein twitterte gestern Abend, man sei bei den gestrigen Gesprächen zwar noch nicht zu einer Einigung gekommen, jedoch sehr optimistisch, dass man die Tarifverhandlungen am 09. Mai zu einem zufriedenstellenden Ende bringen werde. "Die konstruktive Atmosphäre bei dem Treffen zeigt das gemeinsame Interesse, Verbesserungen für die Beschäftigten zu erreichen", sagte Bühnenvereinsgeschäftsführerin Claudia Schmitz.

Personalia

Der Vertrag von Joachim Lux als Intendant des Thalia Theaters wurde bis 2025 verlängert. Ursprünglich hatte Lux seinen Abschied für 2024 angekündigt. Hauptgrund für die Verlängerung ist die Verzögerung geplanter Projekte wegen der Corona-Pandemie.

Der diesjährige Hans-Gratzer-Preis zur Autor*innenförderung geht an das Stück "Aus dem Eis" von Selma Matter. Der Publikumspreis geht an "Granatsplitter" von Marie-Theres Auer, wie auf der Homepage des Wiener Schauspielhauses nachzulesen ist.

Verstorben ist im Alter von 72 Jahren der Travestiekünstler Gerhard Stein alias Gerda Ballon. Die Oberhessische Presse widmet der "wohl schillerndsten Persönlichkeit" der Stadt Mühlheim am Main einen sehr schönen Nachruf.

Und zum Schluss:

Elon Musk plant ein Theater auf dem Mars! So berichtet nachtkritik. Eröffnung soll 2036 sein, um den "Siedler*innen unter den unwirtlichen Bedingungen ein gesellschaftliches Leben" zu ermöglichen. Als erste Inszenierung... Moment - was steht da nochmal für ein Datum über dem Artikel?

Nun ja. Man sollte Musk den Artikel zuspielen, es wäre ihm zuzutrauen. Stellenausschreibungen dann am nächsten 1. April auf Theapolis.

Comments