“Und wie ist es bei Dir? Habt Ihr schon gestritten?”
Wer Weihnachten traditionell im Familienkreis verbringt, hat bestimmt schon mal solche oder ähnliche Nachrichten mit befreundeten “Leidensgenoss*innen” ausgetauscht. Fahren wir über die Feiertage zu unseren Herkunftsfamilien, den Familien unserer Lebenspartner*innen oder anderen Verwandten, so tun wir das häufig mit gemischten Gefühlen: Da ist Onkel Heinz, der immer respektlose Fragen stellt, die Schwiegermutter, die sich zu sehr einmischt - und dann sind da die Eltern, die einen immer noch behandeln wie ein Kind. Und als wäre das nicht genug, rutscht man auch selbst wie ferngesteuert in alte Muster ab. Woran liegt das?
Die gute Nachricht: Es ist vollkommen normal, in alte Muster zu fallen, wenn wir zurück in unser Elternhaus kommen. Die Therapeutin Dr. Sharon Brehm* erklärt das so: "Da sind ganz viele Reize, die sagen, wir sind wieder Kinder." Der vertraute Geruch, das alte Kinderzimmer, bestimmte Rituale, Vorschriften und so weiter. All das holt Erinnerungen hoch.
Was wir als bevormundendes Verhalten empfinden, ist meistens nur ein Wunsch nach Verbindung
Um mit mehr Mitgefühl auf das Verhalten der Eltern zu schauen, hilft es sich klarzumachen: Wenn sie mich wie ein Kind behandeln, dann tun sie das, weil sie mich so die meiste Zeit erlebt haben. Sie waren jahrelang daran gewöhnt, Entscheidungen für mich zu treffen. Seitdem ich ausgezogen bin, bekommen sie nur noch Ausschnitte meines Lebens mit. Was wir als bevormundendes Verhalten oder Einmischung empfinden, ist meistens nur ein Wunsch nach Verbindung, sagt Brehm. Oft gehe es dabei nur um Projektionen. Um das Bild von uns als Kind, das ihnen am vertrautesten ist. Es hilft also zu realisieren: Sie kritisieren gerade einen Teil von mir, der ich schon lange nicht mehr bin.
Wichtig sei außerdem, sich zu versichern: Ich kann mir jeden Ratschlag anhören. Aber keiner kann mich zwingen, ihn auch anzunehmen. Ich bin ein erwachsener Mensch. Und nur ich selbst bin der*die Expert*in für mein Leben. Kritisieren die Eltern bestimmte Lebensentscheidungen oder mischen sich zu sehr ein, sollte man Grenzen setzen und deutlich machen: “Ihr habt diese Verantwortung nicht mehr. Sie liegt jetzt bei mir. Und ich schaffe das, weil Ihr mich so weit getragen habt.”
"Ach, lass gut sein, es ist doch Weihnachten!"
Auch das kennen die meisten: Wenn sich jemand in der Weihnachtsrunde im Ton vergriffen hat, beleidigend, respektlos oder sogar gemein verhalten hat, springt fast immer jemand in die Bresche, um einen aufkommenden Konflikt im Keim zu ersticken. Einerseits ein nachvollziehbarer Impuls. Nur ist verletzendes Verhalten an Weihnachten genau so inakzeptabel wie an allen anderen Tagen. Und man muss nicht alles unter den Tisch fallen lassen, nur weil zum Fest gefälligst Harmonie zu herrschen hat.
Es muss allerdings auch nicht jedes Thema an der Kaffeetafel umgehend ausdiskutiert werden. Wichtig sei jedoch, dass es irgendwann noch einmal angesprochen wird, so Brehm. Geschieht dies nämlich nicht, wird beispielsweise der Onkel, der immer rassistische Sprüche klopft, sein Verhalten auch in Zukunft nicht ändern.
Die Person, die den Konflikt an der einen Stelle unterbindet, sieht Brehm dabei übrigens in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass er an anderer Stelle noch einmal auf den Tisch kommt. “Andernfalls duldet man verletzendes Verhalten.” Und unter keine Umständen sollte die betroffene Person selbst dafür Verantwortung übernehmen müssen, dass ihre Grenze überschritten wurde.
“Bist Du immer noch beim Theater? Willst Du nicht mal einen richtigen Beruf ergreifen?”
“Warum hast Du noch keine*n Partner*in?”, “Wann bekommst Du denn endlich ein Kind?”, "Warum suchst Du Dir nicht mal einen anständigen Beruf?" Fragen dieser Art kennen wir alle. Und uns graut zu Recht davor, denn sie sind übergriffig und verletzend. Meistens sitzt man in großer Runde, wenn sie fallen, und man fühlt sich dabei unter Druck wie ein Kind in der Schule, das aufgerufen wird - und antworten muss. “Menschen fragen Dich solche Sachen, weil sie aus ihrer eigenen Lebensrealität kommen, weil es ihr eigener Lebensweg war. Also werden sie wahrscheinlich gute Gründe haben, warum sie Dir das weiterempfehlen”, erklärt Dr. Sharon Brehm. Und um aus dieser unangenehmen Situation elegant herauszukommen, verrät sie einen einfachen Trick:
Tief durchatmen. Und dann: "Mitgehen, mitgehen - ablenken"
Die Methode nennt sich “Pace, pace, lead” und sie funktioniert so: Fühlt man sich durch eine Frage oder einen blöden Kommentar getriggert, sollte man nicht gleich in die Defensive gehen und "abmoderieren". Stattdessen gilt als erstes mal: tief durchatmen. Und dann: eine Gegenfrage stellen.
Beispiel: Du wirst gefragt, wann Du endlich Kinder bekommst. Statt genervt zu reagieren, frage zurück: “Wie war das denn bei euch? In welchem Alter habt Ihr Kinder bekommen? Wie war es für Euch schwanger zu werden? Wie waren die ersten Jahre mit Kind?” Damit bleibst Du ein bisschen bei dem Thema, gehst also mit - aber in deren Welt. Irgendwann machst Du dann einen charmanten Themenwechsel, in etwa: “Wie war eigentlich Onkel Hannes so als Kind?” So entsteht ein auf einer neuen Ebene ein Gespräch, aus dem alle mit einem guten Gefühl herausgehen können. Und die anderen merken womöglich erst Wochen später, dass ihre Ursprungsfrage gar nicht beantwortet wurde.
Brehm findet es auch empfehlenswert, solche Szenarien im Vorfeld einmal mit einem guten Freund, einer guten Freundin durchzuspielen. Gut durchgeprobt zur Vorstellung, gewissermaßen.
Du musst nicht leiden, nur um Harmonie herzustellen
Ganz ausdrücklicher Reminder bei alldem: Du schuldest niemandem eine Antwort auf ein privates Thema. Es steht Dir immer auch frei, auf eine solche Frage gar nicht antworten zu wollen und das klar zu sagen.
Und schon gar nicht musst Du leiden, nur um Harmonie herzustellen. Du darfst auch nach Hause fahren, zur “Chosen Family”, zu Freund*innen - oder auch einfach ganz alleine sein an Weihnachten, wenn es Dir guttut.
*Mehr zu diesem Thema erfährt man in dem Podcast "Hello, Lovers" (Penguin Random House) mit Dr. Sharon Brehm und Anika Landsteiner.
Du bist über die Feiertage alleine und sehnst Dich nach Gesellschaft?
- Die Initiative "Wege aus der Einsamkeit" veranstaltet am 25.12. eine Zoom-Weihnachtsfeier, u.a. mit Kurzgeschichten und Spielen. Um die Zugangsdaten zu erhalten, genügt eine Mail an info@wegeausdereinsamkeit.de
- Auf der Plattform https://nebenan.de/ kann man sich mit gleichgesinnten Nachbar*innen vernetzen, Aktionen starten, gegenseitig unterstützen.
- Das Projekt #Keine(r)BleibtAllein bringt zu Silvester potenzielle Gastgeber*innen und Gäste zusammen. Bei Interesse kann man sich einfach bis zum 28.12. über Facebook oder Instagram melden.
- Auch auf Helpcity, dem sozialen Netzwerk für schwierige Lebenslagen, findet man Menschen zum Austausch - und kostenlose Beratung durch Mentor*innen.
In Notfällen kann man sich außerdem an folgende Stellen wenden:
- Für Menschen unter 25 Jahren gibt es den Krisenchat. Erreichbar rund um die Uhr über WhatsApp oder SMS.
- Mit der Telefonseelsorge kann ebenfalls man chatten, wenn man nicht sprechen kann oder mag. Und auch die Telefonhotlines sind kostenlos erreichbar unter 0800 / 111 0 111 oder 0800 / 111-0-222 oder -116 123.
- Nicht zuletzt kann man sich an die örtlichen Krisendienste wenden. Bei der Deutschen Depressionshilfe gibt es ein Tool, mit dem man "seinen" Krisendienst finden kann.
Brauchst Du noch Ideen für Last-Minute-Geschenke? Oder ein paar super Buchtipps zum Einmummeln und abtauchen? Dann bitte hier entlang, wir haben da was für Dich.