Was ist da eigentlich in Erfurt los?

Der Fall Guy Montavon: Eine Chronologie

Veröffentlicht am 28. Jan 2024

Generalintendant Guy Montavon beim Festakt 20 Jahre Theaterneubau Erfurt (c) Lutz Edelhoff © Generalintendant Guy Montavon beim Festakt 20 Jahre Theaterneubau Erfurt (c) Lutz Edelhoff © Generalintendant Guy Montavon beim Festakt 20 Jahre Theaterneubau Erfurt (c) Lutz Edelhoff
Was ist da eigentlich in Erfurt los?

Der Fall Guy Montavon: Eine Chronologie

Veröffentlicht am 28. Jan 2024

Gegen den Erfurter Generalintendanten wurden 2023 schwerwiegende Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe und Machtmissbrauchs öffentlich. Sie führten zu seiner Beurlaubung. Jetzt holt die Stadt ihn wieder zurück ins Amt. Und das, obwohl die Vorwürfe noch immer im Raum stehen. Wie kam es überhaupt dazu? Marisa Wendt hat die Vorgänge für uns zusammengefasst.

Unsere Wochenrückblicke kommen der aktuellen Berichterstattung gar nicht mehr hinterher: Wir hatten noch nicht über die Beurlaubung von Intendant Guy Montavon und Verwaltungsdirektorin Angela Klepp-Pallas berichtet, da wurde diese auch schon wieder aufgehoben. Die Beurlaubten können am Montag an ihren Arbeitsplatz zurückkehren - zumindest bis zum Ende der Spielzeit, wenn laut Aussage der Stadt offenbar eine neue Leitungsstruktur in Kraft treten soll.

Eine neue Leitungsstruktur – wo kommt die denn plötzlich her? Und war da nicht noch was mit einer entlassenen Gleichstellungsbeauftragten? In den letzten Monaten wurde zwar regelmäßig (auch in den Theapolis-Wochenrückblicken) über die Vorgänge in Erfurt berichtet, aber so langsam wird es zur Herausforderung, den Überblick zu behalten. Und der ist notwendig, um das rasante aktuelle Geschehen überhaupt im Zusammenhang betrachten zu können. Deshalb gibt es an dieser Stelle ein wenig Kontext in Form einer Chronologie der Ereignisse rund um das Theater Erfurt seit Oktober 2023. Dadurch lässt sich das, was gerade geschieht, leichter einordnen – ob es deswegen auch nachvollziehbarer wird, ist trotzdem fraglich.

Vorgeschichte: Sexuelle Übergriffe über Jahre hinweg

Im Oktober 2023 erhebt die Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Erfurt, Mary-Ellen Witzmann, in einem Gespräch mit der Thüringer Allgemeinen (Paywall) öffentliche Vorwürfe: Am Theater Erfurt sei es über Jahre hinweg zu sexuellen Übergriffen gekommen. Wegen unbewiesener Behauptungen wurde am Theater natürlich niemand direkt beurlaubt oder entlassen – außer Mary-Ellen Witzmann (wie auch im Theapolis-Wochenrückblick #44/23 zu lesen). Den Grund dafür liefert die Stadt Erfurt in einer vorausgeschickten Pressemitteilung vom 23. Oktober. Darin bezieht sie noch keine Stellung zu den Vorwürfen, dafür aber zum Vorgehen der Gleichstellungsbeauftragten, die sich über ihre Befugnisse, Absprachen und offizielle Wege hinweggesetzt und dabei die Stadt in ein schlechtes Licht gerückt habe. Zugleich wurde die Einrichtung einer Kommission zur Aufklärung der Vorwürfe angekündigt.

Witzmanns Entlassung wird von mehreren externen Stellen, aber auch von Fraktionen im Stadtrat scharf kritisiert, wie beispielsweise die ZEIT am 03. November 2023 berichtet. Mary-Ellen Witzmann ist mittlerweile vor Gericht gezogen – so ist es in einem MDR-Bericht vom 16. November zu lesen. Aus diesem geht ebenfalls hervor, dass die Stadt Erfurt wegen der Vorwürfe die Staatsanwaltschaft eingeschaltet und darüber hinaus eine unabhängige Kanzlei mit Ermittlungen beauftragt hat.

Kurz darauf beginnt sich auf der Leitungsebene das Personalkarussell am Theater Erfurt rasant zu drehen: Mitte Dezember geht zunächst Chefdirigent Alexander Prior (vgl. MDR), dann wird auch die Stelle der Personalleitung neu ausgeschrieben; die finanzielle Schieflage des Hauses bietet zusätzlichen Anlass für Kritik (siehe Wochenrückblick #52/23). In welchem Zusammenhang genau dies zu den Untersuchungen steht, lässt sich jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht sagen: Die Namen der Beschuldigten sind bis jetzt nicht öffentlich geworden.

Die Ergebnisse des Untersuchungsberichts: Keine Compliance-Kultur, Neustart nicht möglich

Anfang Januar wird der Untersuchungsbericht der beauftragten Kanzlei vorgelegt, aus dem laut einer Pressemitteilung der Stadt vom 17. Januar hervorgeht, dass es zu Rechts- und Regelverstößen gekommen sei, die jedoch keine „verfolgbaren Straftaten“ seien (siehe Wochenrückblick #3/24). Dass diese Ergebnisse Konsequenzen haben sollen, machte der Kulturdezernent der Stadt laut einem MDR-Bericht vom 18. Januar trotzdem deutlich; hier mahnte der Vorsitzende des Werkausschusses noch an, man dürfe „die Betroffenen nicht aus dem Fokus verlieren“.

Die ersten Konsequenzen folgten einen Tag später, am 19. Januar, und sorgten für große mediale Aufmerksamkeit: In einer weiteren Pressemitteilung gab die Stadt bekannt, dass Guy Montavon sowie Verwaltungsdirektorin Angela Klepp-Pallas bis auf Weiteres beurlaubt seien. Grund sei, dass der vorliegende Untersuchungsbericht „Anlass für eine tiefergehende Prüfung zu darin aufgeführten Vorfällen gibt, die unter anderem die Führungskultur des Theaters betreffen“; außerdem wird angegeben, dass „die zuständigen Fraktionsmitglieder bis zur Sondersitzung des Werkausschusses am 31. Januar 2024 die Möglichkeit haben, sich ein umfassendes Bild zu den Untersuchungsergebnissen zu machen“. Montavon selbst betont, die Aufklärung sei wichtig, bittet aber um Besonnenheit, wie beispielsweise aus einem Artikel in der ZEIT hervorgeht.

In den nächsten Tagen folgten ausführliche Medienberichte. Thomas Schmidt, Mitbegründer des neuen Schauspiels Essen und Professor für Theatermanagement, spricht in einem MDR-Interview von einem strukturelles Problem, da Montavons Vertrag ihn faktisch zum Alleinherrscher gemacht habe. Die Stadt Erfurt veröffentlicht am selben Tag eine Pressemitteilung mit einem etwas detaillierteren Zwischenstand: Vorübergehend werde das Theater Erfurt vom Stellvertretenden Generalintendanten Malte Wasem und dem Beigeordneten für Kultur, Stadtentwicklung und Welterbe, Dr. Tobias J. Knoblich geleitet, der laufende Betrieb sei gesichert, über das weitere Vorgehen werde in den nächsten Tagen entschieden.

Laut dem Bericht der Anwaltskanzlei sei am Theater Erfurt keine Compliance-Kultur etabliert, Präventionsmaßnahmen gegen Diskriminierung (vor allem Diskriminierung auf sexueller Grundlage) seien durch die Leitungskräfte versäumt worden. Auffällig ist hier wie in der ersten Pressemitteilung die Formulierung, dass es sich bei den Vorwürfen um keine verfolgbaren Straftaten handele; trotzdem lautet das Fazit des Untersuchungsberichts klar: „Einen Neustart mit der bisherigen Werkleitung sieht die Kanzlei als nicht möglich an.“

Alles auf Anfang? Intensive Gespräche - jedoch nicht mit Betroffenen

Die Kehrtwende folgt am 26. Januar: In einer weiteren Pressemitteilung gibt die Stadt bekannt, die Beurlaubung von Montavon werde aufgehoben. Er bleibe vorerst als Generalintendant im Amt. Es habe in den letzten Tagen „intensive Gespräche“ mit Montavon gegeben (von intensive Gesprächen mit den Betroffenen, die man nicht aus den Augen verlieren wollte, ist dabei nicht die Rede). Am Theater Erfurt habe es „unschöne und teils schwer nachvollziehbare Situationen gegeben“, jedoch sei keiner der Verdachtsmomente so schwerwiegend, dass „ein arbeitsrechtliches Vorgehen geboten sei“.

Die Stadt stellt ebenfalls in Aussicht, dass es ab der kommenden Spielzeit strukturelle Veränderungen geben solle, in deren Folge das Amt des Generalintendanten entfalle. Das bedeutet zwar faktisch Montavons vorzeitiges Ausscheiden aus dem Amt, dieser stehe aber „für die Transformation des Hauses in seine zukünftige Aufstellung beratend auch nach Beendigung seiner Generalintendanz mit Ablauf der aktuellen Spielzeit zur Verfügung“.

Auch diese Mitteilung erfährt wieder ein überregionales mediales Echo: Von MDR bis n-tv wird über den Fall berichtet. Warum Montavons Beurlaubung nicht bis zur oben erwähnten Sondersitzung am 31. Januar aufrecht erhalten wurde, ist nicht bekannt; dass sein Verbleib im Amt noch der Zustimmung des Stadtrates bedarf, soll nicht untergehen. Die ersten Fraktionen haben bereits angekündigt, gegen einen Verbleib Montavons im Amt zu stimmen, wie aus einem weiteren Bericht des MDR hervorgeht.

Und weiter?

Wie die Stadt bis zum Sommer ein neues Leitungsmodell auf den Weg bringen möchte, ist bislang nicht bekannt. Allerdings wurden im Juni letzten Jahres Pläne für 2027 vorgestellt, nach denen das Haus nach Ende von Montavons Intendanz im Jahr 2027 von einem siebenköpfigen Leitungsgremium geführt werden könnte; nachzulesen ist auch dies beim MDR. Die Idee klang damals interessant, und interessant klingt sie noch immer – ob man schon ein Leitungsgremium in der Hinterhand hat und wie eine Übergabe gestaltet, falls Montavons Beurlaubung nach der Abstimmung im Stadtrat doch wieder in Kraft tritt, wird sich vielleicht in den nächsten Tagen zeigen.

Auch wenn im Rahmen eines Leitungsgremiums vertraglich gesehen niemand zum „Alleinherrscher“ werden kann, ist zu hoffen, dass die Stadt Erfurt bei dieser Personalentscheidung die richtigen Schwerpunkte setzt. Denn wenn man ehrlich ist: Dass im Rahmen der Untersuchungen vor allem Montavons Führungsstil ins Zentrum der Kritik rückte, dürfte so überraschend nicht gekommen sein. Das Problem war bereits 2020 bekannt – und da hatte man den Vertrag des Generalintendanten trotzdem noch verlängert, wie damals auch die Süddeutsche Zeitung berichtete.

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