Wochenrückblick #25/24

Was ist schon "normal"?

Veröffentlicht am 21. Jun 2024

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Wochenrückblick #25/24

Was ist schon "normal"?

Veröffentlicht am 21. Jun 2024

Wie der Bühnenverein auf die Kündigung des Normalvertrag (NV) Bühne reagiert, warum es in Eisenach schon wieder neuen Ärger gibt, inwiefern Corona an den Theatern noch nachwirkt - und weshalb Kulturschaffende in Hamburg sich über sensationelle Neuigkeiten freuen können.

„It´s the end of Normalvertrag as we know it...“

Das hat geknallt! Wie wir bereits am 17.06. berichteten, wollen die Künstler*innengewerkschaften GDBA und BFFS noch in diesem Monat den Tarifvertrag NV Bühne kündigen. Hauptgründe: Die Arbeitszeitregelungen und das Nichtverlängerungsrecht. Und wo sie recht haben... Ein fast 100 Jahre altes Vertragswerk, das Bühnenangestellte in ein feudal anmutendes System zwingt, bei dem Machtmissbrauch durch Nichtverlängerungen ermöglicht wird und in dem man sich, seine Seele, sein Erstgeborenes, seine Freizeit und seine Lebensplanung für die nächsten zehn Jahre an das Theater verkauft - Zeit wurde es also, was zu ändern. Nur: Was wird dabei herauskommen? Erleben wir als Theaterschaffende gerade „history in the making“?

Claudia Schmitz, geschäftsführende Direktorin des Deutschen Bühnenvereins, konstatierte bereits: „Es bringt uns nicht weiter, der Arbeit der Ensembles durch eine Kündigung des NV Bühne die rechtliche Grundlage zu entziehen.“ Der Gegenvorschlag des Arbeitgeberverbands: Ein neues Arbeitszeitmodell für Solist*innen, das verbindliche Grundlagen für Proben- und Vorstellungsbetrieb schaffen soll, aber den NV Bühne weiterhin als Basis nutzen will. Die tarifliche Regelung bei Gästen soll nun erst weiter besprochen werden, wenn man sich über die "Causa NV Bühne" geeinigt hat.

Ausrufe- und Fragezeichen: Jahreshauptversammlung des Bühnenvereins

Dass sich der Bühnenverein nun auf ungemütliche Verhandlungstage gefasst machen muss, steht außer Frage. Bei der Jahreshauptversammlung in Bielefeld mit rund 300 Theaterleiter*innen, Kulturpolitiker*innen und und Vertreter*innen aus den Kulturverwaltungen ging es aber erst einmal vorrangig um das Verdauen der Ergebnisse der Europawahl. Die Kampagne „Theater und Orchester für die Demokratie“ wurde von Bühnenvereinspräsident Carsten Brosda nochmals mit der vollen Unterstützung des Vereins bedacht. Und Publizist Michel Friedman bezeichnete in seiner Rede das Theater als einen wichtigen Ort der Streitkultur und des Verhandelns: „Das Autoritäre kennt das Ausrufezeichen. Die Kunst kennt das Fragezeichen.“ Weitere Ergebnisse der Versammlung sind in der Pressemitteilung des Bühnenvereins zusammengefasst.

„Wo seid ihr?“ - Studie zur kulturellen Teilhabe in Berlin

Wer dieses Wochenende Zeit für nicht sehr erbauliche, aber wichtige Lektüre hat, sollte mal einen Blick in die aktuelle Studie des Institus für Kulturelle Teilhabeforschung werfen. Anhand von Daten aus der Hauptstadt wird dabei fortlaufend das Besucher*innenverhalten im Nachgang von COVID-19 untersucht. Die Ergebnisse der Vorjahres waren durchaus ernüchternd, da ein deutlicher Publikumsschwund zu verzeichnen war - entweder aus Altersgründen oder aufgrund langfristiger Umgewöhnungs- bzw. Entwöhnungseffekte durch die Pandemie. Ob sich die Lage inzwischen entspannt hat, ob die Bühnen weiter um ihr Publikum bangen müssen und – die wichtigste Frage – wie man es zurückgewinnen kann, will die Studie in naher Zukunft beantworten.

„Im Stich gelassen“ - Neuer Ärger in Eisenach

Erst letzte Woche sorgte ein Bericht von Mitarbeitenden des Landestheaters Eisenach über schlechte Arbeitsbedingungen und Machtmissbrauch für Aufregung. Nun steht Intendant Jens Neundorff von Enzberg neuer Ärger ins Haus: Die ASSITEJ Deutschland hat in einem offenen Brief die Schließung der Jungen Sparte am Landestheater scharf verurteilt. Das Theater lasse mit diesem Schritt Kinder und Jugendliche im Stich, die „für die aktuelle Theaterleitung offenbar nicht relevant“ seien. Der ASSISTEJ Vorstand hat dem Theater nun – offensichtlich nicht zum ersten Mal – ein Gesprächsangebot gemacht.

Was kost´ die Welt? - Mehr Geld für Kultur in Hamburg, mehr Kosten in Göttingen

„Sensationell gute Nachrichten“ hatte Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in dieser Woche zu verkünden: Laut NDR sehe der rot-grüne Senat für die Kulturbehörde ein Plus von etwa 11 Prozent vor – mit rund 460 Millionen Euro im nächsten Jahr. Das Geld soll dafür verwendet werden, Kulturschaffende besser zu bezahlen und damit die Inflation auszugleichen. Auch soll es neue Förderprogramme für die freie Szene geben.

Das wird teuer: Nach einem Bericht der HNA wird man für die Generalsanierung des Deutschen Theaters in Göttingen rund 178 Millionen Euro berappen müssen. Unvorhergesehene Verteuerungen und Bauspreissteigerungen hätten die Kosten in die Höhe getrieben, so das beauftragte Planungsbüro. Nach aktuellem Stand soll der Umzug ins Interimsquartier Ende 2027 erfolgen; das Haus selbst könnte bei optimalem Ablauf Anfang 2032 wiedereröffnen. Nun will Oberbürgermeistern Petra Broistedt (SPD) zur Ko-Finanzierung das Gespräch mit Land und Bund suchen: „Die Sanierung des Deutschen Theaters ist ein bedeutendes und unverzichtbares Vorhaben für unsere Stadt.“

Verlängern und erneuern – Die Personalia der Woche

  • Noch vor kurzem hatte sich der scheidende Direktor des Theater an der Josefstadt, Herbert Föttinger, eine Frau für seine Nachfolge gewünscht. Nun scheint es, dass sein Wunsch wahr wird: Wie der Standard erfahren hat, soll Marie Rötzer in den Startlöchern für das Amt stehen und die Leitung ab 2026 übernehmen. Eigentlich ist sie noch bis 2028 künstlerische Leiterin des Landestheaters Niederösterreich. Als Dramaturgin war sie unter anderem am Maxim Gorki Theater, dem Schauspielhaus Graz, dem Staatstheater Mainz und dem Hamburger Thalia Theater tätig. Eine offzielle Bestätigung der Meldung steht aus, wird aber kommende Woche erwartet.
  • An der Bayerischen Staatsoper bleibt alles beim Alten: Nach einem Bericht des WDR wurden die Verträge von Intendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski verlängert. Dorny bleibt bis 2031 in München, Jurowski – auf eigenen Wunsch, wie Kunstminister Markus Blume (CSU) betonte – nur bis 2028. Laut Blume sollen demnächst externe Berater die Strukturen an der Oper unter die Lupe nehmen, um auch das Intendanten-Modell weiterzuentwickeln.
  • Auch in Osnabrück bleibt man sich treu: Intendant und Geschäftsführer Ulrich Mokrusch wurde vom Aufsichtsrat der Städtischen Bühnen bis 2030 verlängert. Die Diskussion um diesen Schritt fiel sehr kurz aus. Oberbürgermeisterin Katharina Pötter bekräftigte die Entscheidung: „Die vielen ausverkauften Vorstellungen zeigen, wie sehr die Menschen in und um Osnabrück das Theater mögen.“
  • Und auch in Frankfurt bleibt ein bekanntes Gesicht dem Schauspiel erhalten, wie die Frankfurter Rundschau schreibt: Der Vertrag von Intendant Anselm Weber wurde vorzeitig bis 2030 verlängert. Damit folgte der Magistrat der Empfehlung von Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD): „Anselm Weber […] steht für ein Schauspiel als Ort der Teilhabe und zugleich der qualitativ hochwertigen künstlerischen Auseinandersetzung.“

Preisflimmern

  • Es glänzte und glamourte auf der anderen Seite des großen Teichs: In New York wurden in dieser Woche die „Theater-Oscars“, die Tony Awards verliehen. Als bestes Stück des Jahres wurde „Stereophonic“ von David Adjmi ausgezeichnet, bestes Musical wurde „The Outsiders“. Den Tony für den besten Hauptdarsteller holte sich Jeremy Strong für „An Enemy Of The People“ (die englische Version von Ibsens „Volksfeind“), als beste Hauptdarstellerin gewann „American Horror Story“-Ikone Sarah Paulson mit das Stück „Appropriate“. Auch Ex-“Harry Potter“-Darsteller Daniel Radcliffe sicherte sich eine Trophäe als bester Nebendarsteller im Musical „Merrily We Roll Along“.
  • Es bleibt in der Familie: Schauspielerin Mavie Hörbiger wird nach einem Bericht von Die Presse mit dem Elisabeth-Orth-Preis ausgezeichnet – der nach ihrer Tante zweiten Grades benannt ist. Von der Jury besonders gelobt wurde die „enorme Vielfältigkeit ihrer Rollengestaltung“. Die Auszeichnung wurde damit zum dritten Mal vergeben; vorherige Gewinner*innen waren Birgit Minichmayr und Michael Maertens.
  • Am Theater Kiel hat Simone Saftig mit ihrem Stück „Modern Mermates“ beim Wettbewerb „Textflimmern“ den Nachwuchsdramatiker*innenpreis gewonnen. Besonders überzeugte die Jury dabei die „dramatische Fusion aus Mythologie und Popkultur“. Der mit 7.000 € dotierte und mit einer Uraufführung verbundene Preis wurde in diesem Jahr erstmals vom Theater Kiel und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein verliehen.
  • Auch das Theater Gießen hat einen Grund zum Feiern: Der diesjährige Dr. Otto Kasten-Preis des Bühnenvereins mit Schwerpunkt Erinnerungskultur und Politischer Bildung geht in diesem Jahr an Ayşe Güvendiren. Ihr Abend „Vergissmeinnicht“ am Haus war Teil des „Jahres der Erinnerungskultur“ und schaffte einen theatralen Ort für die Opfer rechter und/oder rassistischer Gewalt. In diesem Jahr gibt es noch einen zweiten Preisträger, der sich über 5.000 € Preisgeld freuen darf: Yevgen Bondarskyy, der als Theatermacher und Spieler an der Produktion „BLUT“ am Theaterhaus Jena beteiligt war.
  • In Bremen durften die Theaterfreunde wie jedes Jahr den mit 5.000 € dotierten Kurt-Hübner-Preis vergeben. Ihre Wahl fiel auf die Produktion „Doctor Atomic“, eine „beklemmend aktuelle Oper“, die laut Jury auch das Theater Bremen „für mehr Mut zu zeitgenössischer Musik“ begeistern soll. Den Nachwuchspreis erhielt Schauspieler Levin Hofmann, „ein unverwechselbarer Spieler mit Charme, Witz und Eleganz“.

Abschied

  • Traurige Nachrichten aus Berlin: Laut nachtkritik ist der Regisseur und Theaterleiter Hansjörg Utzerath im Alter von 98 Jahren gestorben. In den 1950er Jahren war er einer der Mitbegründer der Düsseldorfer Kammerspiele und verhalf diesen durch seine Inszenierung von Stücken des Absurden Theaters zu überregionaler Beachtung. Später wurde er Erwin Piscators Nachfolger als Intendant der Freien Volksbühne Berlin und arbeitete von 1977 bis 1992 als Schauspieldirektor an den Städtischen Bühnen Nürnberg.
  • Wien trägt diese Woche doppelt Trauer: Theater- und Filmschauspieler Gerald Pichowetz ist im Alter von nur 59 Jahren verstorben - das berichtet der Standard. Pichowetz war Absolvent der Wiener Krauss-Schauspielschule, gründete das Theater Bühne 21 und das Gloria Theater und war regelmäßig Gast am Theater in der Josefstadt und in der Volksoper. Dem TV-Publikum wurde er in den 1990er Jahren durch die Serie „Kaisermühlen Blues“ bekannt.
  • Und noch ein Wiener Urgestein hat sich von der Weltbühne verabschiedet: Das Burgtheater trauert um seinen ehemaligen Direktor Gerhard Klingenberg, der mit 95 Jahren verstorben ist. Er wurde nach der Ausbildung am Wiener Konservatorium 1947 Teil des Schauspielensembles an der Burg. Später arbeitete er als Darsteller und Regisseur an verschiedenen Häusern, bevor er 1971 zum Direktor an seiner ersten Wirkungsstätte ernannt wurde. Er internationalisierte das Burgtheater und holte die damalige europäische Regie-Avantgarde, unter anderem mit Giorgio Strehler, Peter Wood und Roberot Guicciardini nach Wien. Nach seinem Abschied von der Burg war er noch viele Jahre in ganz Europa als Theaterleiter und Regisseur tätig.
  • Eine französische Filmlegende weilt nicht mehr unter uns: Wie die Tagesschau berichtete, ist Schauspielerin Anouk Aimée im Alter von 92 Jahren gestorben. Geboren als Tochter des Schauspielerehepaars Dreyfus stand sie schon mit 14 Jahren auf der Theaterbühne und vor der Kamera. Sie spielte in Fellinis „La Dolce Vita“ ebenso wie an der Seite von Marcello Mastroianni in „Achteinhalb“. Besonders bekannt wurde sie für ihre Rolle in „Ein Mann und eine Frau“, der heute noch als eine der schönsten Liebesgeschichten des Kino gilt.
  • Und – so kurz vor dem Wochenende – noch ein Schock für alle Filmfans: Schauspieler Donald Sutherland ist mit 88 Jahren gestorben, wie ebenfalls bei der Tagesschau zu erfahren war. Seine Karriere erstreckte sich über viele Jahrzehnte: In mehr als 150 Film- und TV-Produktionen war er mit von der Partie. Seinen internationalen Durchbruch feierte er 1967 mit dem Klassiker „Das dreckige Dutzend“; gefeiert wurde seine Rolle in Nicolas Roegs Horror-Studie „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ - heute noch berüchtigt durch die skandalösen Sexszene mit Julie Christie. 2017 erhielt Sutherland einen Ehrenoscar für sein Lebenswerk. Good night, Mr. Sutherland!

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