Liebe Birgit, lieber Christoph, Ihr seid Vorstandsmitglieder der Deutschen Musical Akademie - seit wann gibt es diesen Interessenverband? Wer stand hinter der Gründung - und gab es dafür einen konkreten Auslöser?
Birgit Simmler: Vor der Gründung war der Bedarf an internem Austausch, dem Bündeln gemeinsamer Interessen und damit dem Aufbau einer adäquaten Interessenvertretung für Musicalschaffende spürbar. Dieser Austausch beschränkte sich lange auf die klassischen Kantinengespräche nach einem Theaterbesuch, wo zwar angeregt und konstruktiv über das Thema Musical diskutiert wurde, was aber kaum zielgerichtet zu einem gemeinsamen Ziel führen konnte.
Christoph Drewitz: Die Musicalschaffenden im deutschsprachigen Bereich sind auf unterschiedlichste Regionen und Länder verteilt. Es gab natürlich hier und da Veranstaltungen, Seminare und Podiumsdiskussionen. Dort trafen sich die Fachleute aus nahezu allen relevanten Bereichen, aus Forschung und Lehre, dem Verlagswesen, den Fachzeitschriften, sowie Theaterleiter*innen, Autor*innen, Komponist*innen, Regisseur*innen, Darsteller*innen, Choreograf*innen. Aber es gab eben nicht diese eine, konstante Institution, die dieses Know-How dauerhaft bündeln und weiterentwickeln konnte.
Eine konstante Institution, die Know-How dauerhaft bündeln und weiterentwickeln kann
Birgit Simmler: Das Interesse an der Förderung des deutschsprachigen Musicals und auch an einer gemeinsamen Umsetzung dieser Unterstützung war immer spürbar. Im September 2013 wurde dann die Deutsche Musical Akademie (DMA) gegründet, und das mit 19 Gründungsmitgliedern, darunter Norbert Hunecke, Craig Simmons, Thomas Hermanns, Gayle Tufts, Kim Moke, Reinhard Simon, Simone Linhof.
Christoph Drewitz: Es waren also erstmals Vertreter*innen aus dem privatwirtschaftlich agierenden und dem mit öffentlichen Geldern geförderten Bereich in der Lage sich unter einem Dach zu vereinen.
Warum die Bezeichnung "Akademie"?
Christoph Drewitz: Mit dem Begriff der Akademie wollten die Gründungsmitglieder klar zum Ausdruck zu bringen, dass sich ein großer Baustein der künftigen Arbeit um Weiterbildung und Förderung für die Verbandsmitglieder drehen sollte. Ganz konkret hatten wir von Anfang an die Autor*innenförderung und Stückförderung im Blick, da diese bis dato nirgends eine zentrale Anlaufstelle hatten.
Die Kernpunkte unserer "fünf Säulen" waren damit eindeutiger definiert: Wir setzen auf Bildung und Exzellenzförderung, und ebenso auf Öffentlichkeitsarbeit, die Vernetzung unserer Mitglieder und auf die Förderung des deutschsprachigen Musicals. All das ließ sich unter dem Namen "Akademie" unter einen Hut bringen und strahlt die dem Genre gebührende Seriosität aus.
Was sind Eure Ziele? Wo seht Ihr aktuell, aber auch langfristig die größten "Baustellen", die bearbeitet werden sollten? Gibt es Problematiken, die Ihr als ausgesprochen "musicalspezifisch" bezeichnen würdet?
Birgit Simmler: Das Musical in Deutschland konnte sich wenig spezifisch entwickeln, da es in den mit öffentlichen Geldern geförderten Theaterhäusern als Sparte nicht vorkommt. Die privatwirtschaftlich organisierten Musicalhäuser haben hingegen eine hohe Ausrichtung auf im angloamerikanischen Raum entwickelte Stücke, die national verkaufbar sein müssen. Da bleibt eine Lücke.
Ein Bewusstsein für Musical als eigenes Genre schaffen
Insofern ist mein wichtigstes Ziel die spezifische Entwicklung von neuen, deutschen Musicals. In meiner Künstlerischen Theaterleitung bei den Luisenburg-Festspielen mache ich das für die große Bühne und ein großes Publikum. Die DMA zeigt bei der "schreib:maschine" in einem Open Stage Format auch neue Werke in Entwicklung für kleinere Besetzung.
Weiterhin geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Musical ein eigenes Genre mit eigenen professionellen Bedingungen ist, von der Entwicklung über die Auditions, die Teams, die Musik, die Art der Umsetzung, die dafür notwenigen Ressourcen. Der Bereich der Ausbildung hat für Darsteller*innen in den letzten Jahrzehnten einiges geleistet. Für die hinter der Bühne Wirkenden gibt es weniger spezifische Angebote für das Genre Musical. Auch hier kann die DMA dazu beitragen, dass das besser wird.
Das Musical im deutschsprachigen Raum muss professionalisiert werden
Christoph Drewitz: Seit vielen Jahren begleitet mich der Wunsch, dass das Musical im deutschsprachigen Raum professionalisiert werden muss. Im Vergleich zum anglo-amerikanischen Raum gibt es, wie Birgit richtig sagt, wenige Entwicklungsmöglichkeiten für die kreativen Fachleute in unserer Branche. Vieles entwickelt sich aus einer durchaus beachtlichen Fan-Basis, durch Musicals, die beispielsweise in Schulen oder in Amateurgruppen zur Aufführung kommen.
Der Schritt, daraus einen Beruf als Regisseur*in, Autor*in, Komponist*in zu entwickeln, entstammt in den meisten Fällen einem Studium anderer Bereiche oder aber komplett durch Learning-by-Doing. Wir wollen in diesem Bereich Wege bereiten, um fachspezifischeren Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten den Weg zu ebnen, bzw. diese selbst anzubieten.
Mehr aktuelle Themen und musikalische Einflüsse
Gerade in der Stückentwicklung ist Deutschland im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien einige Jahre zurück, der Puls der Zeit wird noch zu selten aufgegriffen bzw. werden aktuell-relevante Stoffe und Einflüsse noch zu wenig angepackt. Ich selbst sehe im Musical-Genre die Möglichkeit, Musiktheater modern, relevant und attraktiv für ein Publikum zu kreieren, was sich bisher kaum für das Theater interessiert hat, mit aktuellen Themen und aktuellen musikalischen Einflüssen. Da steckt eine große Chance, aber dafür braucht es die Offenheit und Mitwirkung der staatlich geförderten Bühnen, die jenseits der kommerziellen Auswertung hochwertiges modernes Musiktheater produzieren und ausprobieren könnten.
Wie hat sich die Pandemie auf Eure Arbeit ausgewirkt?
Christoph Drewitz: Wir haben uns im Vorstand der Akademie in der Pandemie-Zeit mehr austauschen können, als es im "normalen" Betrieb der Fall gewesen wäre. Die Zusammensetzung des Vorstands hatte sich kurz vor der Pandemie sehr verändert und damit auch die Herangehensweise an viele Themen. Wir konnten die internen Strukturen verändern, viele Mitglieder zur aktiven Mitarbeit gewinnen und somit diesbezüglich enorme Schritte hin zur Professionalisierung erreichen.
Leider konnte unser Aushängeschild, die Verleihung des "Deutschen Musical Theater Preises", im letzten Jahr nicht stattfinden. Es gab kaum Uraufführungen und eine wertige Preisverleihung schien uns nicht möglich. Eine durchgeplante Ersatzveranstaltung zu den Zukunftsperspektiven wurde durch den zweiten Lockdown leider auch zunichte gemacht.
Mehr Vernetzung, neue Online-Formate
Darüber hinaus mussten auch andere unserer Formate, wie die "schreib:maschine", pausieren. Hier haben wir aber kürzlich erstmals eine digitale Version durchführen können. Neue digitale Formate, wie beispielsweise der Buchclub, sind entstanden und die Vernetzung innerhalb der Akademie ist durch Online-Meetings tatsächlich etwas einfacher geworden, wenngleich natürlich ein persönlicher Austausch extrem fehlt.
Birgit Simmler: Es blieb aber auch mehr Zeit, ein gutes System für die Entwicklung neuer Musical-Werke zu schaffen, erste Projekte zu beginnen, und Kooperationen auf den Weg zu bringen. Parallel hat mein Haus, die Luisenburg-Festspiele, gemeinsam mit der DMA ein jährliches nationales Fachsymposium ins Leben gerufen, das zu einer Vertiefung des Austauschs beiträgt von Best Practice Beispielen über Fachvorträge und wissenschaftliche Beleuchtung des Genres. Die Arbeit auf der Bühne war im Rahmen der Pandemie natürlich so gut wie nicht existent. Hoffentlich wird das bald besser.
Warum sollte man Euch unbedingt beitreten, und was hebt Euch von anderen Verbänden mit ähnlicher Klientel ab?
Birgit Simmler: Die DMA bietet ein sehr großes Netzwerk, in dem Fachfragen jederzeit kundig beantwortet werden können. Ihre Highlights sind die offene Bühne "schreib:maschine", die jährliche Prämierung der besten deutschsprachigen Uraufführungen im "Deutschen Musical Theater Preis", das Fachsymposium sowie die Arbeit in sechs themenbezogenen Kommissionen von Weiterbildung bis zur "50:50 Kommission" für die gleichwertige Behandlung von Männern und Frauen im Genre.
Fachfragen werden jederzeit kundig beantwortet
Die DMA bietet in zahlreichen Einzelveranstaltungen einen Ein- und Überblick in die Szene sowie spannende private und berufliche Kontakte. Und das alles für einen recht niedrigen Jahresbeitrag.
Was war Euer bisher schönstes, lustigstes oder auch einfach spektakulärstes Erlebnis in der Verbandsarbeit?
Birgit Simmler: Das erste Symposium in Wunsiedel, das mit sieben internationalen Schreibteams aus fünf europäischen Ländern sowie einem aus den Vereinigten Staaten aufgewartet hat.
Christoph Drewitz: Die jährliche Preisverleihung zum "Deutschen Musical Theater Preis" ist immer ein Highlight, wenn eigene Produktionen nominiert sind, natürlich nochmal mit mehr Nervenkitzel verbunden. Mein persönliches Highlight war der Gewinn des Preises für das "Beste Musical" für unser Team von "Fack Ju Göhte" ganz am Ende der Verleihung 2018, es war nervenaufreibend und dann sehr erlösend und eine große Freude. Dass ich für die nächsten Preisverleihungen als Künstlerischer Leiter aktiv werden darf, ehrt mich sehr und stellt eine Herausforderung dar, speziell in der aktuellen Zeit, wo wir noch nicht absehen können, ab wann wir wieder in geregelten Bahnen agieren und unser Genre in gebührendem Rahmen würdigen können.
Vielen Dank, Birgit Simmler und Christoph Drewitz!(c)Florian Miedl
Birgit Simmler
Birgit Simmler lernte, parallel zu ihrem Literaturstudium, am New Yorker Broadway beim Produzenten Manny Azenberg. Ab 1999 war sie künstlerische Produktions- und Projektleiterin bei „Tanz der Vampire“ und „Joseph“ in Wien, bei Tourneen, Festivals, Arena-Opern, Freilichtbühnen und Großproduktionen. Sie produzierte auch selbst. Nach ihrem Diplom-Abschluss 2009 in EMAA (Executive Master in Arts Administration) an der Uni Zürich war sie erst Gründungsintendantin der Schlossfestspiele Biedenkopf. Seit 2018 ist sie Künstlerische Theaterleiterin der Luisenburg-Festspiele Wunsiedel mit einem Schwerpunkt der Entwicklung neuer Werke für die große Felsenbühne. Birgit ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Musical Akademie.
(c)HainPhotographie
Christoph Drewitz
Nach seinem Studium zum Kulturmanager war Christoph Drewitz viele Jahre in verschiedenen Positionen für Stage Entertainment tätig, unter anderem als Casting Director für "Blue Man Group", als Künstlerischer Leiter am Apollo Theater Stuttgart, Colosseum Essen und Stage Operettenhaus in Hamburg. Für das Musical "Rocky" war Christoph als Associate Director sowohl in Deutschland, als auch in New York tätig, ehe er das Stück in eigener Regie in Prag auf die Bühne brachte. Weitere Regie-Arbeiten umfassen u.a. diverse Uraufführungen deutschsprachiger Musicals, z.B. "Lotte" (7 Nominierungen für den DMTP), "Fack Ju Göhte" (DMTP für "Bestes Musical") und demnächst "Ku’Damm 56" am Theater des Westens in Berlin. Christoph hat einige Musicals ins Deutsche übertragen. Im Sommer 2020 initiierte er das Pop-up Festival "Rosengärtchen live" in Wetzlar. Er ist als Künstlerischer Leiter Mitglied des Vorstands der Deutschen Musical Akademie.